Asow-Kämpfer in Mariupol

Drei Tage in Kiew

Ich arbeite seit über 30 Jahren in der Ukraine und in Rußland. Dabei war ich mehr oder weniger erfolgreich. Ich wurde auch betrogen und bedroht. Oft fragte man mich: „Warum arbeitest Du dort?“. Meine Antwort war immer klar: „Ich liebe die dortigen Völker und ihre Kultur. Ich schätze ihre Leistungen, die sie im Kampf gegen Hitlerdeutschland vollbracht haben. Ich habe viele gute Freunde dort. Ich glaube, ich kenne auch ihre Probleme.“

Nun ist Krieg. Nichts ist mehr so wie es war. Unser Büro in Kiew haben wir geschlossen und unsere Wohnung steht leer. Wir haben Angst, daß auch diese dem Krieg zum Opfer fallen, deshalb machte ich mich kürzlich auf den Weg nach Kiew, um die wichtigsten Dinge zu sichern bzw. zu holen. Er führte wie immer von Berlin über Wroclaw (heute sagt man wieder Bres[1]lau), Kraków an die sogenannte EU-Außengrenze nach Krakowez. Kurz vor der Grenze tankte ich mein Auto noch einmal auf. Der Liter Diesel kostet 1,71 Euro, weniger als in Berlin. Ich hoffte, daß ich damit ohne Probleme bis Kiew fahren kann. Von Freunden hörte ich, daß es in der Ukraine oft keinen Diesel gibt oder man nur 20 Liter bekommt. Auf der polnischen Seite wartete ich fast drei Stunden bis zur Abfertigung. Neben mir reihten sich die LKWs fast sechs Kilometer weiter auf. Tagelang stehen sie hier, bis sie die Genehmigung zur Weiterfahrt erhalten. Auf der ukrainischen Seite stehen sie zehn Kilometer und mehr. Die Kraftfahrer brauchen oft vier oder fünf Tage, um die Grenze zu passieren, ohne jeglichen Service. Das war schon immer so und ist nicht nur ein Problem des Krieges. Die ukrainischen Behörden schimpfen auf die polnischen und umgekehrt – auf keiner Seite ein freundliches Wort. Ich bin einer der vielen Wartenden und habe Zeit, die Situation zu beobachten. Es fällt auf, daß auf der polnischen Seite viele LKW-Konvois, immer zehn Fahrzeuge mit Polizeibegleitung und Blaulicht, ohne Halt über die Grenze fahren. Ich zähle in einer Stunde vier bis fünf Konvois. Sie bringen die tödlichen Waffen und Militärtechnik an die Front. Oft sind es schwere Überseecontainer. Niemand darf sich ihnen in den Weg stellen. Welche Mengen an Waffen das sind, kann ich mir kaum vorstellen. Hier ist ein großer Grenzübergang.

 Davon gibt es mindestens sechs. Dann bin ich endlich bei der polnischen Grenzkontrolle. Alles verlief normal. Danach muß ich zur ukrainischen Kontrolle, ca. 250 Meter entfernt und warte wieder zwei Stunden. Der erste Beamte fragt nach meinem Reiseziel. Ich sage: „Ich fahre nach Kiew.“ „Sprechen Sie ukrainisch?“ „Nein“, sage ich. „Sprechen Sie russisch?“ Und ich antwortete: „Nein“. Ich wußte, russisch will hier keiner mehr hören. Dann kommt ein weiterer Beamter, offensichtlich mit höherem Rang. Er stellt die gleichen Fragen und spricht mich in Deutsch an. Ich beantworte seine Fragen. Er reicht mir die Hand und sagt: „Ich heiße Mykola, früher hieß ich Nikolai!“ Das war ein gutes Zeichen. Ich dachte sofort an meine Frau. Sie hieß früher Elena, und die ukrainische Behörde machte ohne Zustimmung aus ihr eine Olena. Jetzt ist man dabei, alle Namen der Städte und Straßen, die einen Bezug zu Rußland und ihre gemeinsame sowjetische Vergangenheit haben, umzubenennen. Endlich bin ich aus dem Grenzkontrollbereich heraus. Sofort fahre ich an die erste Tankstelle und prüfe, ob es Diesel gibt und zu welchem Preis. Diesel gab es für 1,31 Euro. Das war erstaunlich. Hier ist Krieg und so ein Preis. In Berlin zahlte ich 2,29 Euro und alle behaupten, der Krieg ist schuld. Der relativ billige Dieselpreis ist nur damit zu erklären, daß man seitens der Regierung alles macht, damit das ukrainische Volk ruhig bleibt. Hier gibt es auch keine Kfz-Steuer, und man sieht viele Nobelkarossen, viel mehr als in Deutschland. Genug, ich fahre weiter an Lwow (heute sagt man Lemberg) vorbei in Richtung Rowno.

 Es fällt auf, daß fast in jedem Ort oder an wichtigen Punkten die rot-schwarzen Banner der Bandera-Leute wehen, selbst auf dem freien Feld und auf den Friedhöfen. Hier ist das Zuhause der Faschisten. Dort, wo sich noch vor einigen Jahren ein Lenin-Denkmal befand, steht jetzt Bandera. Oft hatte ich in Lwow zu tun. Seit mindestens 15 Jahren konnte ich beobachten, daß man Hitlers „Mein Kampf“ auf dem Markt in ukrainischer, in russischer und auch in deutscher Sprache kaufen kann.

Meine Fahrt wird immer wieder durch Kontrollpunkte unterbrochen. Große Stahlkreuze und Betonblöcke verhindern die normale Durchfahrt. Und immer wieder die gleichen Fragen: „Wohin wollen Sie? Was haben Sie geladen?“ Fahrzeugkontrollen durch die freiwilligen Kämpfer, bewaffnet mit alten Maschinengewehren. Ihr Anblick ist angsteinflößend. Alle drei bis fünf Kilometer sind Bänder mit der Aufschrift: „Slawa Ukraine“ über die Straße gespannt. Das ist der alte Gruß der Bandera-Leute aus der Hitlerzeit. Ab und an sehe ich eine Flagge mit dem Foto von Putin und der Aufschrift: „Tötet Putin“. Dieses Bild zieht sich durch die gesamte Westukraine. Von Rowno führt mein Weg weiter nach Kiew. Die Bandera-Symbole werden immer weniger. Im Gebiet Schitomir und Kiew ist davon kaum noch etwas zu sehen. Es fällt auf, daß viele Felder nicht bearbeitet sind. Die Betriebe haben kein oder zu wenig Geld dafür. Die großen Agroholdings machen oft riesige Gewinne. Diese werden in den Westen gebracht. Sie gehen kein Risiko ein und warten, wie sich die Dinge in der Ukraine weiterentwickeln. Kiew macht einen ruhigen Eindruck. Die Menschen gehen zu Arbeit, sofern es diese noch gibt. Sie sitzen im Restaurant, trinken und essen wie immer.

 Zu meiner Verwunderung höre ich auf meine diesbezügliche Frage: „Der Krieg ist weit.“ Andere sagen: „Das ist nicht unserer Krieg.“ Man[1]che erzählen, daß sie nicht an die Front wollen. Sie verstecken sich, wechseln ständig ihren Aufenthalt oder ihre Arbeitsstelle. Die Chefs müssen die Namen ihrer Mitarbei[1]ter an die Behörden melden. Andere erzählen, daß sie sich freikaufen wollen. Das heißt, sie müssen ca. 5 000 bis 7 000 US-Dollar schwarz an die Behörden zahlen, um aus dem Einberufungssystem gestrichen zu werden. Eine Garantie dafür gibt es nicht. Das Geld fließt in private Taschen. Der Regierung bis zum Präsidenten ist dies kein Geheimnis. Andere berichten, daß militärische Kommandos regelrecht Jagd auf junge Menschen machen. Sie werden aus Restaurants, dem Supermarkt oder der Arbeitsstelle geholt oder auch auf der Straße eingefangen und ohne Ausbildung an die Front geschickt. Oft wissen die Angehörigen nichts davon. Mir fällt auf, daß kaum Personen offen gegen Selenskij sprechen. Sie haben Angst und das mit Recht. Politische Gegner werden hier z. Z. schnell liquidiert. Viele sagen, wir haben einen anderen Präsidenten gewählt, nicht den, der er jetzt ist. Nichts von dem, was er versprochen hat, wurde realisiert.

Manche wohnen ganz oben in den 11 bis 25-Geschossern. Der Fahrstuhl arbeitet nicht und wenn er fährt, hat man Angst, diesen zu benutzen, denn jede Minute kann der Strom abgeschaltet werden. Auch ich mußte vielmals in die 10. Etage steigen, um mein Auto für die Rückfahrt zu beladen. Die Ukraine soll mit Macht in die NATO und die EU. In meinen Augen ist die Ukraine ein total korruptes Land. Hier kann man und muß man alles erkaufen. Das beginnt an der Grenze. Alles ist käuflich. Die gesamte staatliche Führung ist korrupt. Wozu dann diese Milliarden-Hilfen? Das Geld verschwindet. Nicht wenige Soldaten an der Front bitten ihre Angehörigen um warme Bekleidung. Die Menschen werden unruhiger und unzufriedener. Für einen gefallenen Sohn erhalten die Angehörigen 13 000 Grivna (ca. 325,00 Euro) für die Beisetzung. Im Beschluß des Ministerkabinetts № 168 vom 28. Februar 2022 steht, daß der Staat für einen an der Front Gefallenen 15 Mio. Grivna (das sind ca. 375 000 Euro) zahlt. Diese Summe hat viele junge Menschen als Freiwillige an die Front gebracht. Aber jetzt wird oft den Hinterbliebenen mitgeteilt, daß die betreffende Person an der Front selbstverschuldet im Kampf gefallen oder an einer inneren Krankheit, z. B. Krebs, verstorben sei. Eine Variante ist auch die Erklärung: „vermißt“. In diesen Fällen bekommen die Angehörigen kein Geld.

 Das ist Betrug am ukrainischen Volk. BRD-Politiker sagen, hier wird „unsere Demokratie verteidigt“. Noch vor wenigen Jahren verteidigte Deutschland diese Demokratie am Hindukusch. Nach drei Tagen in Kiew fahre ich zurück. Mit tiefen Eindrücken und klarer Sicht auf die heuchlerische Politik in unserem Land. Falsche Informationen prägen unseren politischen Alltag. Ich glaube nicht, daß es nur Dummheit ist. Es ist vielmehr eine ganz gezielte Aktion. Ich fahre ohne Pause bis zur Grenze. Das ist nicht mehr meine Ukraine, dachte ich. Auf der polnischen Seite, in der EU angekommen, begrüßt mich ein junger Zöllner unhöflich. „Öffnen sie Ihr Auto!“ Ich mache alle Türen auf. Mein Auto war bis auf den letzten Zentimeter mit meinen Sachen beladen. „Was ist das? Fahren Sie zurück.“ Ich antworte: „Ich fahre nicht zurück, ist Ihnen entgangen, daß dort Krieg ist? Ich habe notarielle Dokumente, daß diese Sachen mein Eigentum sind. Schauen sie in meinen Reisepaß, ich bin Bürger der BRD und der EU.“ „Das interessiert mich nicht“, sagt er. „Dann holen Sie Ihren Chef und ich werde ihm alles erklären.“ Danach entscheidet er anderes. „Fahren Sie dort in die Halle und laden Sie alles aus“. Mein Auto und die Ladung wurden buchstäblich zerlegt. Nach zwei Stunden konnte ich die Fahrt nach Hause fortsetzen.

R. Handarbeit

Ein Kommentar

  1. Hallo Peter,
    dürfen die „die rot-schwarzen Banner der Bandera-Leute“ eine Rechtfertigung für die Invasion eines Landes sein? Ich möchte nicht auf die unterschiedliche Bewertung von Stephan Bandera und erst recht nicht auf die Art seines Todes eingehen https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/nationalist-und-kollaborateur-4112722.html

    Ich meine vielmehr, dass autoritäre Regierungen (und ich denke dabei an Polen, Ungarn oder auch die Türkei) nichts in der EU mit dem grundlegenden Bekenntnis zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, zu Menschenrechten, Tolerenz und Vielfalt zu suchen haben. Nationalistische und gar faschistische Regierungen stehen einer Mitgliedschaft in der EU entgegen.

    Aber selbst ein faschistisches Regime oder autokratische Entwicklungen rechtfertigen für sich genommen noch keinen Krieg. Auch ein faschistisches Italien würde es nicht rechtfertigen, im deutschsprachigen Südtirol einzumarschieren. Gewalt und Zwang sind keine Lösungen. Das gilt auch für ethnische oder nationale Minderheiten in einem anderen Staatsgebiet. Das „Völkerrecht“ ist insoweit kein „Recht der Völker“ sondern ein „Recht der Staaten“ – und dient primär der Friedenserhaltung.
    Ethnische Konflikte müssen daher durch weitestgehende Autonomie-Regelungen bis hin zur Unabhängigkeit einer Region gelöst werden. Diese Unabhängigkeit – sei es der Schotten von Britannien, der Kastalanen von Spanien oder der Basken und Bretonen von Frankreich – muss in einem demokratischen Verfahren z.B. über eine Volksabstimmung errungen werden. Ich könnte mir vorstellen, dass in der EU entsprechende Rahmenregelungen erarbeitet werden, die dann auch von Beitrittskandidaten akzeptiert werden müssten – und dann etwa für Moldawien oder die Ukraine und die Krim gelten würden.

    Herzliche Grüße

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